Im bündnerischen Poschiavo wird nichts weniger als Energie für ganz Europa gehandelt. Market Access Trader Christian Kuhnert erzählt von den aufregenden Seiten des Stromhandels, der bei Repower gelebten Italianità und davon, weshalb eine Vokuhila-Perücke zum Alltag gehört.
Das 3’000-Seelen-Dorf Poschiavo im südlichen Teil von Graubünden strahlt in erster Linie Gelassenheit aus. Im Café an der Hauptstrasse wird gemütlich Cappuccino geschlürft und dem Vogelgezwitscher zugehört. Was viele nicht wissen: Vor dieser idyllischen Kulisse stellen Market Access Trader wie Christian Kuhnert sicher, dass der Stromhandel in ganz Europa rundläuft. «Das hat einen historischen Ursprung», erklärt Christian. Das Kraftwerk in Campocologno mit dem Lago di Poschiavo als Speicher wurde 1906 in Betrieb gesetzt und war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das grösste Wasserkraftwerk Europas. «Es bildet unser Herzstück. Vor 100 Jahren wurde die Wasserturbine noch mit den Pferdefuhrwerken ins Kraftwerk gezogen, wobei die Maschine heute sogar noch läuft. Das macht mich stolz.»
Wall-Street-Stimmung an der Via da Clalt
Von analogen Arbeitsmethoden ist im Unternehmensgebäude nicht viel zu spüren. Der Arbeitsplatz von Christian wird von sechs Bildschirmen dominiert. Zahlen fliegen hoch und runter, Grafiken zeigen Strompreise rundum Europa, im Hintergrund läuft der tägliche Newsfeed, und nebenan wird laut telefoniert: An der Via da Clalt herrscht Wall-Street-Stimmung. Zusammen mit fünf anderen Market Access Trader sorgt Christian dafür, dass die Stromproduzentin Repower den Strom optimal bewirtschaftet. «Als Stromhändler repräsentiere ich meine Kolleginnen und Kollegen vom Kraftwerkseinsatz am Markt. Wenn sie in den nächsten paar Wochen mehr Wasser in ihren Speicherkraftwerken haben, müssen wir für sie mehr Strom verkaufen. Das können wir entweder über eine Plattform machen, oder wir rufen Kunden in der ganzen Schweiz an und fragen, ob sie zu guten Konditionen mehr Strom beziehen möchten.» Dabei ist der Trader besonders froh, wenn wir die Wäsche nicht über Mittag waschen. «Ich bin um jede Kilowattstunde froh, die gespart wird. Wenn Menschen Strom sparen, können wir bei Repower zu günstigen Stunden am Mittag Strom oder Wasser pumpen und dies dann den Verbraucherinnen und Verbrauchern am Abend zur Verfügung stellen, wenn sie mehr verbrauchen.»
Von schottischen Meteorologen und Vokuhila-Perücken
Wie sein Tag verläuft, hängt nicht von Zahlen, sondern vom Wetter ab. Morgens telefonieren er und sein Team stets mit einem Meteorologen aus Schottland. Von ihm erfahren sie, wie sich die Wetterverläufe in ganz Europa verändern. «Eine Südstaulage in den Alpen würde viel Regen für unsere Kraftwerke im Süden bedeuten. Wenn wir viel Wasser erwarten, müssen wir mehr Strom produzieren, um Platz im Stausee zu schaffen.» Dann heisst es für den gelernten Bankkaufmann wieder: Kunden anrufen und Strom verkaufen. Die andere Konstante in Christians Alltag ist seine Vokuhila-Perücke, die stets griffbereit auf dem Schreibtisch liegt. «Wenn ich meinen Kolleginnen und Kollegen sage, dass ich ‹Vokuhila gehe› und meine Perücke aufsetze, dann verkaufe ich am Markt Strom für die nächsten zwei Monate und kaufe Strom für die nächsten Jahre», lacht er. «Vorne kurz bedeutet zu wenig Strom für die kurzfristige Periode und hinten lang bezieht sich auf zu viel Strom für die langfristige Periode.»
Trading bedeutet in erster Linie auch Handlungsspielraum. «Mit dem verfügbaren Kapital treffe ich alle Entscheide. Weil mir Nachhaltigkeit sehr wichtig ist, kaufe ich zum Beispiel viel Strom von Solaranlagen und versuche, ihn am Markt zu vertreiben.» Die Freiheit hat gute und schlechte Seiten. «Einerseits ist es sehr schön, wenn eine Strategie aufgeht und ich meine Erfolge sehe, andererseits kann es auch sehr frustrierend sein, weil ein politisches Ereignis, wie eine Gaspipeline-Explosion in Österreich, das ganze Timing zunichtemachen kann. Mit unvorhersehbaren Verläufen muss man als Trader leben können.»
Morgens durch Graubünden biken, nachmittags Strompreise verhandeln
Nach seinem Abschluss als Wirtschaftsingenieur an der Fachhochschule Nordwestschweiz hat er sich sein Mountainbike geschnappt und ist zwei Wochen mit dem Zelt durch die Alpen gefahren. Auf seiner Reise ist der Ostdeutsche irgendwann in Poschiavo gelandet und hat die Repower gesehen. «Ich wusste gar nicht, dass die Repower ihren Sitz in Poschiavo hat. Da ich sowieso in den Bergen leben wollte, habe ich mich beworben, und ein paar Monate später sass ich schon hier. Beim Vorstellungsgespräch haben sie mich gefragt, wie lange ich mir vorstellen könnte, in Poschiavo zu bleiben. Meine damalige Antwort war zwei bis drei Jahre. Mittlerweile sind es schon zwölf.»
Der passionierte Biker kommt bei Repower privat und beruflich voll auf seine Kosten. «Die Arbeitszeiten sind extrem flexibel. Wenn das Wetter schön ist, sind wir morgens noch auf einer Biketour. Dafür arbeiten wir dann abends länger.» Die Nähe zur Natur und die gelebte Italianità bringen Christian ins Schwärmen. «Wir haben ein buntes kulturelles Spektrum an Mitarbeitenden, viele davon sind schon lange dabei. Zusammen haben wir auch nach der Arbeit immer schöne gemeinsame Erlebnisse, egal, ob wir zusammen Wine-Tastings besuchen, biken oder in unserem riesigen Garten grillieren.»
In den Garten geht es nun für eine kurze Verschnaufpause, um die Augen zu beruhigen und den Kopf zu lüften. Dann handelt Christian wieder auf seinen sechs Screens den Strom von morgen.