Ein monumentaler Turm auf dem Julier, ein wieder zum Leben erwecktes Grand Hotel, eine historische Zuckerbäckerei: Giovanni Netzer spinnt mit seinem Theater Origen die Geschichte Graubündens weiter.
Räume und Geschichten, das sind die beiden Themen, die Giovanni Netzer umtreiben. Seine Mission ist es, diese zu verbinden. Und die Mittel dazu reichen von Theater über Musik, Philosophie, Gastronomie bis hin zur Architektur. Es gibt wohl keinen Ort, der passender wäre für unser Gespräch als der Rote Turm auf dem Julierpass – und das nicht nur, weil er von Giovanni Netzer erträumt und ermöglicht wurde, sondern weil er in vielerlei Hinsicht ist wie Giovanni Netzer. Beide leben von der Atmosphäre, die entsteht, wenn Welten aufeinanderprallen. Beide lassen den Blick weit schweifen, ohne das, was ganz nah ist, aus den Augen zu verlieren. Beide inkorporieren, was auch immer die Umgebung ihnen liefert – und machen daraus ein Erlebnis für alle Sinne.
Wir sitzen im ersten Stock des Turms, auf der Bühne, die an Stahlseilen bis unters Dach gezogen werden kann, über uns ragt der Bau fast dreissig Meter in die Höhe. Durch die vielen Fenster sieht man die vorbeifahrenden Autos, immer wieder steigen Menschen aus, vertreten sich die Füsse und bestaunen das Bauwerk, das, obwohl schon drei Jahre alt, nichts von seiner disruptiven Kraft zu verlieren scheint. Durch die vielen Fenster mit dem Draussen verbunden fühlt man sich gleichzeitig beschützt, als Teil der Landschaft und fast schon religiös demütig vor der mächtigen Bergwelt.
Der Turm hat etwas von einem sakralen Raum – stringent, wenn man bedenkt, dass Giovanni Netzer, Jahrgang 1967, auch Theologe ist. «Ja, hier oben denkt man über die Ewigkeit nach», sagt er. «Wie mit all unseren Projekten ging es uns auch mit dem Turm darum, zu hinterfragen, wie Theater oder generell Kultur stattfinden kann. Muss es wirklich die Guckkastenbühne sein? Was, wenn das Geschehen aus der Mitte heraus stattfindet, wenn der vertikale Raum eine Rolle spielt, warum nicht echtes Sonnenlicht statt einer Fiktion von Licht in einem künstlich verdunkelten Raum? Muss man alles kontrollieren?»
Die fragende Haltung ist Giovanni Netzers Modus Operandi. Alles, was er anpackt, tut er mit einer entwaffnenden Neugier, feinem Humor und einer Offenheit für alles, was das Licht der Aufmerksamkeit – einmal auf ein Thema gelenkt – noch zu Tage befördern könnte. Geschichten halt. Deshalb auch Theologie: Religion beruht auch auf Geschichten, Mythen, Erzählungen und darauf, wie die Menschen mit ihnen umgehen, was sie daraus machen, sprich Kultur.
Nach zwei Jahren Theologiestudium in Chur verschlug es ihn nach München, wo er nach seinem Abschluss noch Theaterwissenschaft daran hängte. Er blieb zehn Jahre in der bayerischen Landeshauptstadt, doch eigentlich, erzählt der Savogniner, war die Rückkehr nach Graubünden schon immer Teil des Plans. Er konnte nie damit aufhören, darüber nachzudenken, was den Kanton ausmacht, was er bietet, wie seine Zukunft aussehen könnte. «Wir brauchen beides: das Festhalten an und Bewahren von dem, was hier gewachsen ist, an dem, was den Ort zum Daheim macht, aber auch die Einflüsse von aussen, den frischen Blick von Zurückkehrenden.» Damit meint er nicht sich, obwohl er auch einer ist, sondern zum Beispiel Jean Jegher, einer der vielen Bündner Zuckerbäcker, die nach einer kosmopolitischen Karriere doch zurückkehrten zu ihren Wurzeln, und etwa, wie Jegher, die prächtige Weisse Villa in Mulegns, einem kleinen Dorf an der Julierpassstrasse bauen liessen.
Es ist eines der spektakuläreren Projekte von Netzers Stiftung Origen, dass sie dieses gekauft, inventarisiert, renoviert und auch gleich noch en bloc acht Meter versetzt hat, damit die Passstrasse an dieser Stelle etwas verbreitert werden konnte. Heute fungiert es als Café, Theater, Kulturstätte – so genau will sich keines von Netzers Projekten kategorisieren lassen. Ebenso wenig das Post Hotel Löwe, ebenfalls in Mulegns: Das heruntergekommene Grand Hotel faszinierte Netzer schon immer, besonders aber, nachdem er mit Origens dessen Geschichte aufgearbeitet hatte: Hier waren schon amerikanische Präsidenten, englische Königinnen, russische Zarinnen, Albert Schweitzer und Wilhelm Conrad Röntgen abgestiegen, denn durch die enge Gasse Mulegns mussten sie alle kommen. Heute, in seiner Zeitrechnung nach Netzer, ist das Hotel wieder ein Hotel – aber natürlich auch noch viel mehr.
Seit nunmehr 16 Jahren belebt Netzer mit Origen den Kanton Graubünden und positioniert ihn auf der internationalen Landkarte nicht nur als touristischen, sondern auch als kulturellen Hotspot – immer mit dem Feingefühl des Einheimischen, der Land und Leute kennt und versteht, aber auch mit der grossen, barrierefreien Denkweise des Weltbürgers. Was die Zukunft bringt? Netzer ist – und genau das macht ihn aus – offen für alles.